Das Sozialisierungsdilemma
Wenn man so durch Facebook oder Instagram scrollt, dann hört oder
ließt man, was Sozialisierung angeblich alles ist oder besonders auch
nicht ist.
Dabei ist es eigentlich ganz leicht, denn es gibt bereits eine Definition für diesen Begriff, der seit Jahrzehnten feststeht. Niemand müsste sich um eine Neue bemühen. Oder vielleicht doch?
Lt. wissenschaftlicher Definition bedeutet Sozialisierung,
wenn ein Lebewesen in die belebte Umwelt "eingeführt" wird, sie also
kennenlernt. Das bedeutet sowohl den eigenen Haushalt, aber auch an
möglichst viel "Lebendes" außerhalb des eigenen Haushaltes.
Und spätestens ab hier scheiden sie alle möglichen Geister. Ab hier wird es tricky!
Denn da gibt es zum Einen die Fraktion: "Ich lasse meinen Welpen zu allem und jedem hin zum HALLO sagen, weil der ja neugierig ist, das auch will und der ja mit allem sozialisiert werden muss." und zum Anderen gibt es die Fraktion: "Hunde brauchen keine fremden Hunde und schon gar nicht, um sozialisiert zu werden und schon gar nicht so."
Aber was ist denn nun Richtig? Gibt es einen Mittelweg? Sagen wir mal "Jein"! Und es ist diesmal gar nicht so einfach einen guten Anfang zu finden. Also wird das hier wohl ein längerer Text. Ich hoffe, Du hast ein wenig Zeit!?
Es heißt ja immer, wenn man den Hund verstehen will, dann muss man sich den Wolf anschauen oder z.B. verwilderte Haushunde:
Wolfswelpen
kommen in ihrem Rudel zur Welt. Dieses Rudel besteht aus Mama, Papa und
vielleicht einigen Geschwistern aus dem Vorjahr, die als Babysitter
noch da sind. Die Welpen werden innerhalb ihrer sozialen Gruppen in die
Regeln, Strukturen und Gefüge nach und nach integriert. Das geht nicht
von heute auf morgen, muss es auch nicht. Die Welpen haben Zeit zu
lernen. Aber grundsätzlich kann man festhalten, dass auch Wolfswelpen
ca. bis zur 13. Lebenswoche sehr aufnahmefähig sind und Kenntnisse und
Erfahrungen, die für das Zusammenleben wichtig sind, leichter sammeln
können.
Bei einer verwilderten Haushundegruppe würde das ganz ähnlich aussehen.
Weder
Mama Wolf noch Papa Hund wird seine Sprößlinge an die Pfote nehmen, die
Territoriumsgrenze übertreten, ein fremdes Rudel suchen und die lieben
kleinen dann bei maximaler Erregung eine Stunde lang miteinander toben
lassen, damit die auch schön sozialisiert sind.
An dieser Stelle
gibt es mal einen kleinen Hinweis. Ich mag ein wenig Polemik, Ironie
und auch den ein oder anderen provokanten Satz, damit man sich Dinge
besser vorstellen kann. Wer das nicht mag, wird meinen Blog nicht mögen.
Aber das Gute an diesem Blog ist, man muss ihn nicht lesen!
Soweit
so gut! Unsere westlichen Hunde sind aber weder Wölfe noch verwilderte
Haushunde. Das nächste Rudel wohnt nicht meilenwert entfernt, sondern im
Zweifelsfall hinter dem nächsten Gartenzaun. Auf jedem Spaziergang
trifft man Menschen und Hunde. Passt also diese Sicht der Sozialisierung
nun noch? Die Sicht auf: "Triff mit deinem Hund keine fremden Hunde.
Lass sie nicht spielen. Lass sie keinen Kontakt haben."
Kann sie doch
nicht! Es ist so einfach nicht möglich. Unsere Hunde müssen lernen,
dass es andere Hunde gibt und jetzt kommt der wichtigste Satz in diesem
Text:
WIE SIE SICH IHNEN GEGENÜBER ZU BENEHMEN HABEN!!!!
Und dabei kann man sie sich nicht selbst überlassen!!!
Gleich
höre ich alle "lass deinen Hund nicht zu fremden Hunden
hinlaufen-Kollegen" laut BUHHH schreien, denn man kann ja viele
Meinungen haben, aber Fakt ist, dass Sozialkontakte für ein soziales
Lebewesen wichtig sind und dass es für Hunde wichtig ist, spielen zu
dürfen.
Und alle "ich lass meinen Hund überall hin, damit er spielen kann, weil er ja so neugierig ist-Personen" so "YEAH STRIKE!"
Ne, nix Strike!! Luft anhalten, abwarten!!!
Ich
hole meinen süßen kleinen Welpen (sagen wir mal einen Labrador) mit 9
Wochen vom Züchter. Er ist aufgeschlossen und neugierig und erkundet
gerne die Welt. Es ist wichtig, dass der sieht, dass es nicht nur
Labradore gibt, sondern auch andere Hundetypen und weil ichs ja so gut
meine, lasse ich meinen aufgeregt an der Leine hoppelnden Labrador zu
allen Hunden hin, wo es möglich ist. Ich bin sogar nett und frage und
oft darf mein Labbi da hin und spielt (oder was auch immer) da mit den
anderen Hunden, während ich gemütlich mit den anderen Haltern eine Runde
quatsche.
Was passiert in der Zwischenzeit mit meinem kleinen, süßen Labbi??
Er
lernt!!! Spiel ist eine tolle Plattform für`s Lernen, da sie mit
optimalen Erregungszuständen einher geht und alle möglichen Hormone
ausschüttet. Euer Labbi lernt, dass er mit anderen Hunden maximal viel
Spaß haben kann, während ich als Mensch langweilig an der Seite
rumstehe. Also andere Hund = Party, Mensch = öde! Im Kopf des kleinen
Labbis übrigens mit übergroßen Buchstaben und fett geschrieben, weil die
Hormone das alles schön fest im Kopf des Hundes verankern. Bei einem
Labrador reicht vielleicht schon ein solches Erlebnis für eine maximale
Abspeicherung im Gedächtnis. Denn hier kommt die Genetik ins Spiel. Der
Labbi ist darauf gezüchtet worden, mit anderen Hunden sogar dann gut
klar zu kommen, wenn Beute im Spiel ist, weil die Art und Weise, wie der
Labrador ursprünglich für die Jagd eingesetzt worden ist, war so, dass
immer mehrere Hunde mit ihren unterschiedlichen Besitzern unterwegs
waren. Man brauchte keine Hunde, die sich gegenseitig an die Gurgel
gehen. Sie sollten nett miteinander sein. Solche Hunde, dazu gehören
z.B. auch viele Meutehunde wie z.B. der Beagle, haben eine genetische
Disposition dafür, andere Hunde richtig gut zu finden und gerne auch dem
Menschen gegenüber zu favorisieren. Das heißt nicht, dass die sich
nicht eng an ihre Menschen binden, das heißt nur, dass es mehr Arbeit
ist und auch mehr Arbeit ist, einen Labbi davon zu überzeugen, dass
andere Hunde nicht wichtiger sind als man selbst. Läßt man den kleinen
Labbi nun also noch ständig mit anderen Hunden spielen und dabei große
Lust empfinden, während man selbst überhaupt nicht drüber nachdenkt,
dass es gut wäre, sich in dieses Spiel einbringen zu können, dann
passiert und gefähr das, was 95% aller Labradorhaltern passiert: 6
Monate später, 20 - 25kg mehr und der Hund will zu jedem Hund hin und
setzt alles ein, was er zur Verfügung hat in einem oft sehr hohen
Erregungsniveau.
Übrigens passiert einem das mit sehr, sehr
vielen Hunden, wenn man das so macht wie beschrieben. Allerdings ist das
Endergebnis oft ein Anderes. Während die meisten Labbis zu anderen
Hunden hinwollen, um sie zu bespaßen, nicht selten auch um sie
zwangszubespaßen, schubst die Genetik bei anderen Hunden das an, wozu
sie gezüchtet worden sind und das beinhaltet oft, dass man fremde Hunde
nicht in der eigenen Gruppe haben will.
Bei dem einen oder
anderen dürfte es jetzt klingeln, wenn er einen Hund an der Leine hat,
der andere Hunde anpöbelt. Und ja, 85 - 90% aller Leinenpöbler
"produziert" man sich mit diesen unkontrollierten Spielsituationen als
Welpe. Und zwar weil man entweder a. wie oben beschrieben, den kleinen,
süßen, neugierigen Knirps der an der Leine hüpft und spingt und so
drollig zum anderen Hund hinzieht seinen Willen läßt, weil er das ja
braucht oder b. weil man vielleicht schon wirklich ziemlich gut ist und
den Hund genau dann eben NICHT dahin läßt, aber die Stimmung in die sich
der Hund da versetzt ohne Rückmeldung laufen läßt.
Das heißt so
oder so, schaut nochmal den wichtigsten Satz weiter oben an: Man hat
leider eben dem Hund NICHT erklärt, wie man möchte, dass er sich
benimmt, wenn man auf andere Hunde trifft.
So, jetzt schreit die
"keinen-Kontakt-zu-fremden-Hunden-Fraktion" wieder "YEAH!" und die
andere zeigt mir den Stinkefinger, oder?
Alle wünschen sich ja immer sowas wie ein Patentrezept, Trainingstipps und -tricks und wisst ihr was?? Jetzt gibt es eines:
1. Lass deinen Hund NIEMALS zu anderen Hunden, wenn er aufgeregt und hibbelig ist, besonders wenn er jünger ist als 16. Wochen.
2.
Wenn dein Hund mit anderen Hunden spielt, ganz besonders wenn er noch
jung ist, lass das, auch wenn es noch so niedlich ist a. nie länger als 5
- 10 Minuten am Stück laufen, weil das Nervenkostüm deines Hundes das
noch nicht gut verarbeiten kann und nur unter "maximaler Spaß und
maximale Erregung" abspeichert. Nichts davon ist später für dich
hilfreich.
3. Achte darauf, dass dein Hund im Spiel mit anderen
Hunden, besonders wenn er jung ist, von Anfang an und step bei step
lernt, dich nicht aus dem Kopf zu verlieren.
Wie kannst du konkret vorgehen?
1.
Überlege dir immer was du für später willst? Willst du einen Hund, der
auch dann noch auf dich reagiert, wenn er mal mit einem anderen im Spiel
ist? Willst du einen Hund, der jedesmal, wenn er andere Hunde sieht, zu
denen er mal nicht darf, total durchdreht? Dann ist es wichtig, dass du
entsprechendes Verhalten nicht förderst, weil du deinen Hund genau in
dieser Stimmung immer wieder zu anderen Hunden läßt. Wie oft er das
darf? GAR NICHT!! Solange er aufgeregt ist, kann er nix lernen außer
Schwachsinn. Warum das so ist, kann ich Dir gerne in einem Ersttermin
erklären.
2. Wenn du auf andere Hunde triffst und dein Hund ist
aufgeregt und hibbelig. Achte zum einen darauf, dass der andere Hund
nicht genauso aufgeregt ist. Ist er es doch, geht z.B. wenn ihr
unbedingt Zeit miteinander verbringen wollt, an der Leine miteinander
spazieren, ohne dass die Hunde Kontakt zueinander haben dürfen. Lasst
sie nicht laufen, solange sie hibbelig sind. Überlege dir immer, was
dein Hund vom anderen Hund lernt. Und ganz ehrlich, treffen zwei Chaoten
aufeinander, was sollen die wohl von einander lernen, außer sich noch
chaotischer zu benehmen!?
Ist das ein souveräner cooler Hund, dann
geht ihr erst solange mit den Hunden spazieren, bis dein Hund ruhiger
wird. Dann könnt ihr sie durchaus von der Leine machen. Ein souveräner
cooler Hund, wird deinem Hund helfen, sich selbst zu regulieren.
3.
Wenn du deinen Hund kurz mit einem anderen Hund spielen läßt, weil er in
einer guten, ausgeglichen Stimmung war, dann sorge dafür, dass du
jederzeit eingreifen kannst. Entweder weil ihr auf einem eingezäunten
Areal seid oder weil dein Hund an einer langen Leine ist. Du greifst
ein, wenn er sich zu sehr aufspult, wenn er Hilfe braucht, wenn der
andere Hilfe braucht oder auch einfach nur mal so, damit dein Hund
lernt, dass du auch noch da bist und vor allen Dinge für Dich, damit du
lernst, wie du deinen Hund stoppen kannst, wenn du das willst. Wenn du
dabei Unterstützung brauchst, dann melde dich.
Was wenn du
jetzt denkst: "Mist!! Das habe ich schon total anders/ falsch gemacht."
Dann kannst du diesen Gedanken eigentlich nur aus einem Grund haben,
weil dein Hund irgendwelche Verhaltensweisen zeigt, die im Alltag
störend sind und genau daraus resultieren.
Was könnte das sein?
* Dein Hund ist beim Gassi gehen, auch wenn er keine Hunde sieht, total aufgeregt.
*
Wenn ihr auf Hunde trefft, ist HalliGalli bei deinem Hund angesagt.
Entweder weil er hin will, um Spaß zu haben oder, weil er sie
mittlerweile doof findet (mir ist hier ganz wichtig zu sagen, dass das
bei vielen Hunden eine genetische Geschichte ist und NICHTS mit guter -
oder schlechter - Sozialisierung zu tun hat).
* Wenn dein Hund mit anderen Hunden im Spiel ist, bist du quasi abgeschrieben. Er hört und sieht nix mehr.
* Wenn er andere Hunde sieht und du ihn nicht rechtzeitig anleinst, dann ist er weg und hört auch nicht mehr.
Und sicher gibt es noch einige andere Möglichkeiten für unerwünschtes Verhalten, welches im Alltag einfach stört.
Ich
möchte hier gerne einmal los werden, dass 80% meiner Kunden zu mir
kommen, weil ihre Hunde sind an der Leine nicht wie gewünscht verhalten.
Du befindest dich also in guter Gesellschaft. Wirklich!!
Was ich
auch gerne loswerden möchte ist, dass so gut wie kein Hund an der Leine
aus ANGST pöbelt. Ich renne ja auch nicht schreiend auf eine Spinne zu
(vor der ich nämlich Angst habe), sondern von ihr weg. Und solange ein
Ausweichen und Wegkommen möglich ist, wird ein Hund der Angst hat das
heimlich, still und leise tun und nicht auch noch auf sich aufmerksam
machen. Eigentlich logisch, oder?
Auch sowas wie: "Der macht das,
weil er die Hundesprache nicht spricht!" oder ähnliches höre ich immer
wieder und ist in aller Regel leider Unsinn. Besonders schön, wenn das
ein Hundetrainer sagt und das obwohl der Hund sich mit vielen Hunden
versteht nur mit einigen nicht. Sprechen die anderen wohl einen Dialekt,
den er nicht kann? Sorry, aber der musste sein!
Also es gibt
natürlich Gründe und es gibt auch vielfältige Gründe und hier geht es ja
um das Thema Sozialisierung. Und es gibt viele unterschiedliche
Möglichkeiten, wie man das in den Griff bekommt, je nachdem, was da so
für Gefühle mitspielen, wer welche Rolle bedient, wer was schon kann
etc. etc.
Aber, das kann ich wirklich nur im Einzelunterricht mit
euch zusammen lösen. Mir ist wichtig zu sagen, dass es jetzt kein
unmöglicher Wunsch ist, dass der eigene Hund lernt, ruhig an anderen
Hunden vorbei zu gehen. Wirklich nicht! Aber, wenn der Ursprung im
Welpenalter liegt, dann ist der Weg, den ihr nun gemeinsam gehen müsst,
sicherlich kein Leichter und auch kein Kurzer, aber ein Möglicher!
Lasst uns also nochmal darauf zurück kommen, was Sozialisierung ist oder auch nicht!
Sozialisierung
hat also nichts damit zu tun, dass der Hund jeden Hund im Umkreis von
25km persönlich kennenlernen muss und zwar im Spiel!
Ich meine, du
kannst dich doch auch vernünftig benehmen - hoffe ich - ohne dass du
jedem Menschen die Hand schütteln musstest. Und vermutlich hast du gutes
Benehmen auch erstmal im näheren Familien-, Verwandten- und
Freundeskreis gelernt, bevor es dann z.B. in die Schule ging.
Dein
Hund lernt gutes Benehmen auch schon von seiner Mama und seinen
Geschwistern, dann muss er erstmal lernen, wie er sich mit und bei dir
richtig verhält und wie eure gemeinsamen Regeln aussehen, wenn er die
verstanden hat, dann kannst du ihm ein paar Hunde aussuchen, von denen
er gute Dinge lernt und dann darf da auch mal ein gleichaltriger Kumpel
bei sein, mit dem er auch mal spacken darf, aber BESONDERS da stehst du
immer in der Nähe und greifst ein wenn das Spacken zu doll wird oder
eben auch einfach nur mal so, um zu üben, wie du dich in solche
Situationen ins Spiel bringen kannst. Und Letzteres sollte die Ausnahme
sein! Wirklich! Beide Spackolis haben für die Zukunft deutlich mehr
davon, wenn ihr sie jetzt nicht wie blöde die ganze Zeit miteinander
toben lasst. Das können sie später, wenn ihr sie gut einschätzen und bei
Bedarf kontrollieren könnt immernoch. Ehrlich! Da geht euch nichts
verloren.
Denkt dran, immer vom Kleinen ins Große! Wenn sich
dein Hund in deinem Nahfeld nicht kontrollieren kann, wenn er andere
Hunde sieht, dann kann er es erst recht nicht, wenn er weiter von dir
entfernt ist!
Dein Hund kommt im Prinzip auch schon sozialisiert
von der Mama, er muss jetzt nur lernen, dass es Hunde gibt, die anders
aussehen, als er und seine Mama. Und wenn er dann mal eine kleine
Spielsequenz kriegt, ist das auch völlig ok. Und doch, es ist in der
Regel Spiel auch wenn man überall ließt was angeblich alles kein Spiel
ist. Aber dazu schreibe ich vielleicht nochmal wann anders was. Sonst
kann ich bald ein Buch vermarkten!
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